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Projekte und Grundlagen
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«Mein Behandlungsteam hat einen Plan!» - Digitale Implementierung von Workflows und Guidelines in den Praxisalltag

Beschreibung

Das Projekt adressiert die zunehmende Komplexität medizinischer Guidelines und deren Einhaltung im Praxisalltag. Die aktuell in der Schweiz erhältlichen Praxisinformationssysteme (PIS) bieten dabei kaum Unterstützung, was zur Eigenentwicklung der Software Sanaguide ® durch die Sanacare AG führte. Die Software befähigt MPAs zur Beratung bei akuten unkomplizierten Erkrankungen sowie Ärzteschaft und MPKs bei der Betreuung chronisch Kranker, integriert Diagnosenhilfen, Workflows und Wissensunterstützung und ist ein zertifiziertes Medizinprodukt. Sie lässt sich über Schnittstellen mit Browser-basierten PIS verbinden. Zurzeit wird die Software in 13 hausärztlichen Gruppenpraxen eingesetzt und unterstützt Behandlungen von Diabetes, Prädiabetes und Hypertonie sowie akuten Harnwegsinfekten. Qualitätsmessungen und systematische Auswertungen ermöglichen Einblicke in Behandlungsqualität und Patientenzufriedenheit und damit kontinuierliche Verbesserungen und Qualitätsentwicklung.

Bereich

Zurzeit wird die Software in 13 hausärztlichen Gruppenpraxen eingesetzt und unterstützt Behandlungen von Diabetes, Prädiabetes und Hypertonie sowie akuten Harnwegsinfekten.

Laufzeit des Projekts

2020-2021 agile Software Entwicklung
2021 Pilotversuch, anschliessende Auswertung
Seit 2022 Implementierung in 13 hausärztliche Gruppenpraxen

Involvierte Berufsgruppen

Ärzteschaft, medizinische Praxiskoordinator:innen klinischer Richtung, Medizinische Praxisassistent:innen, Advanced Practice Nurses.
Künftige Erweiterung auf andere Berufsgruppen wie Apothekerinnen und Apotheker oder Physiotherapeutinnen und -therapeuten geplant.
Indirekt: Patientinnen und Patienten (Software unterstützt Beratung und Empowerment der Patienten; ausdruckbare Behandlungspläne)

Eignung

Hausärztliche Grundversorgung, vor allem im interprofessionellen Setting. Ein Browser-basiertes PIS muss vorhanden sein.

Ablauf

Ausgangslage 
Umfang und Komplexität von Guidelines werden immer grösser. Dokumentierte Guideline-treue Behandlung wird zunehmend von Leistungsträgern, aber auch von juristischen Instanzen eingefordert, stellt aber auch eine wertvolle Hilfe bei der betriebsinternen Qualitätsentwicklung dar. Studien zeigen auch bei motivierten Ärztekollektiven mit hohen Qualitätsansprüchen noch ein erhebliches Verbesserungspotenzial bezüglich Umsetzung. Interprofessionelle Betreuungsteams müssen sicherstellen, dass Notwendiges stattfindet und dass Doppelspurigkeiten vermieden werden. Für diese Problematik fehlt eine verlässliche und intuitive Workflowunterstützung. Mehrfacheingaben von medizinischen Daten zum Zweck der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung sollen vermieden werden. Die bisher in der Schweiz kommerziell erhältlichen Praxis- und Klinikinformationssysteme bieten bei der Erfüllung all dieser Anforderungen kaum Unterstützung. Auch ein Blick über die Landesgrenzen hinaus ergab keine Lösung, welche unsere Anforderungen erfüllen würde. Also entschloss sich die Sanacare AG, diese Lösung selbst zu entwickeln. 

Erreichte Ziele: 
Das Projekt beabsichtigte, mit der Entwicklung einer Software folgende Hauptziele zu unterstützen: 

  • Sicherstellung einer hohen Behandlungsqualität bei Menschen mit chronischen Krankheiten 
  • Implementierung von individualisierten Behandlungspfaden für die Betreuung von Menschen mit chronischen Krankheiten 
  • Einsparung von ärztlichen Ressourcen in der Grundversorgung bei gleichzeitig effizientem Einsatz von nicht-ärztlichen Fachpersonen 
  • Vereinfachung der interprofessionellen Kommunikation 
  • Implementierung eines Behandlungspfads für die abschliessende Beratung von Patientinnen mit einfachen akuten Erkrankungen ohne Alarmzeichen durch Medizinische Praxisassistentinnen 
  • Die entwickelte Software soll die Erkennung von Diagnosen unterstützen, eine evidenzbasierte Workflow-Unterstützung anbieten sowie den Benutzern zum richtigen Zeitpunkt die benötigte Wissensunterstützung anbieten 
  • Erleichterte Messung medizinischer Outcomes bei definierten Krankheitsgruppen, inkl. der Erhebung von PROMs und PREMs (patient reported outcome measures; patient reported experience measures) 
  • Das System sollte bezüglich bearbeiteter Krankheiten und Anzahl Patientinnen skalierbar sein, sich mit verschiedenen PIS kombinieren lassen und permanent weiterentwickelt werden 
  • Die entwickelte Software sollte ein zertifiziertes Medizinprodukt nach MDD (Medical Device Directive) oder je nach regulatorischer Situation nach MDR (Medical Device Regulation) sein

Methodik

Aufbauend auf das Chronic Care Modell von Wagner und auf Erfahrungen in unserer Organisation wurden in Zusammenarbeit mit einer Fokusgruppe aus Ärztinnen/Ärzten, MPKs und MPAs Anforderungen und Workflows für die akuten und chronischen Pfade formuliert und die Benutzeroberfläche interaktiv mit einem Spezialisten gestaltet.
Gemeinsam mit einem sorgfältig evaluierten externen IT-Partner wurde schliesslich in den Jahren 2020 bis 2021 mittels agiler Software-Entwicklung (SCRUM) die Software Sanaguide ® entwickelt.
2021 fand in einer hausärztlichen Gruppenpraxis ein Pilotversuch statt. Die Nutzer-Rückmeldungen und die auftretenden technischen Probleme, welche vor allem die Schnittstelle zum Praxisinformationssystem betrafen, wurden sorgfältig ausgewertet. Die entwickelte Software wurde als Medizinprodukt Klasse I gemäss MDD zertifiziert. Im Hinblick darauf war schon früh im Entwicklungsprozess ein entsprechend spezialisiertes Partnerunternehmen einbezogen worden.
Auf Basis des Pilotversuchs wurde die Software entscheidend verbessert. Im Frühjahr 2022 konnte die Software in 13 hausärztlichen Gruppenpraxen in Betrieb genommen werden.
Auch weiterhin finden kontinuierliche Risikobeurteilungen, fortlaufende Sammlung und Auswertung von Nutzer-Rückmeldungen, Verbesserungen der Benutzerfreundlichkeit und technische Verbesserung zur Erhöhung der Applikationsgeschwindigkeit statt. Die Produktentwicklung wird auch weiterhin durch eine interprofessionelle Fokusgruppe (s. oben) begleitet.
2 x jährlich wird ein neuer Softwarerelease herausgegeben. Die für die medizinischen Fachpersonen hinterlegten Wissensunterstützungen (referenziert auf von Fachgesellschaften der Schweiz unterstützte bzw anerkannte Guidelines) werden jährlich überarbeitet und nach dem Vieraugenprinzip von zwei Ärztinnen/Ärzten freigegeben.
Die Systemnutzung und die im System dokumentierten Patientinnen und Patienten werden fortlaufend monitorisiert. Zudem werden jährliche Reportings von Qualitätsdaten der Betreuungsprozesse, der Outcomes sowie von PREMs und PROMs erstellt.
Inhaltlich begannen wir mit der Unterstützung der Behandlung und Beratung von Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus und/oder arterieller Hypertonie in den chronischen Pfaden und von Patientinnen mit unkompliziertem Harnwegsinfekt als akuter Pfad. Im Sommer 2023 kam als weiterer chronischer Pfad Prädiabetes dazu. Für 2024 ist die Entwicklung und Implementierung eines weiteren akuten Pfades (virale Infekte der oberen Luftwege) vorgesehen.

Aufwand und Kosten

Der Aufwand und die Kosten für die Entwicklung, die Administrierung und die Weiterentwicklung dieser als Medizinprodukt eingestuften Software sind hoch. Wir sind überzeugt, dass sich diese strategische Investition auf Grund der Guideline-nahen, qualitativ hochstehenden Versorgung zu Gunsten unserer Patientinnen und Patienten und wegen der userfreundlichen, effizienten Prozesse auch für unsere Behandlungsteams lohnend ist.

Nutzen und Wirksamkeit

Die Sanacare AG entwickelte die Browser-basierte Software Sanaguide ®, die mittels Schnittstellen mit unserem (kommerziell erhältlichen) PIS verbunden ist. Patientendaten, welche strukturiert verfügbar sind, werden jeweils in Echtzeit aus dem PIS geholt. Die Software zeichnet sich vor allem durch folgende Eigenschaften aus:
- Unterstützung bei der Diagnose-Erkennung von Diabetes mellitus, Prädiabetes und arterieller Hypertonie: Wird ein Blutzucker- oder HbA1c Wert im prädiabetischen oder diabetischen Bereich gemessen, erhält die behandelnde Hausärztin einen Hinweis (Aufgabe im Patienteninformationssystem). Ebenso bei sehr hohen Blutdruckwerten. Wir konnten nachweisen, dass das System Erkrankungen erkennen konnte, die bisher noch nicht diagnostiziert waren.
- Erstellen eines Behandlungsplans im chronischen Pfad: Für die Behandlung von chronischen Erkrankungen kann einfach ein Jahresplan mit sämtlichen Konsultationen, Beratungen und Konsilien bei externen Spezialisten erstellt und den Patienten ausgehändigt werden. Ein evidenzbasierter Vorschlag wird durch das System erstellt. Je nach individueller Situation des Patienten kann begründet von diesem Vorschlag abgewichen werden (z. B. bei Patienten, welche auf Grund zusätzlicher Morbiditäten eine verkürzte Lebenserwartung haben). Der Behandlungsplan dient auch zur Orientierung des Behandlungsteams und als Ausgangspunkt zur Vorbereitung und Dokumentation der entsprechenden Konsultationen und Beratungen.
- Chronischer Pfad (Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie, Prädiabetes): Workflow-Unterstützung bei verschiedenen Konsultationstypen. Bei Startkonsultationen (neu gestellte Diagnose), Verlaufskontrollen, Jahreskontrollen werden Ärztinnen, Ärzte und Medizinische Praxiskoordinatorinnen der Situation angepasst durch verschiedene Schritte (Anamnese/Klinik, Behandlungsziele, Alarmwerte, allfällige Medikationsanpassungen, Kommunikation mit anderen Teammitgliedern) geführt. Dabei werden periodisch zu erhebende Werte (Grösse, Gewicht, Blutdruckwerte, Anamnesedaten) je nach Krankheit rot markiert, sobald ihre Gültigkeit abgelaufen ist. Im System erfasste Daten werden in verständlicher Freitextform ins Patienteninformationssystem (juristische Krankengeschichte der Patienten) geschrieben (keine Doppelerfassung).
- Chronischer Pfad: Unterstützung bei der Laborverordnung. Je nach Krankheit werden auf einem Laborblatt automatisch bestimmte Werte, deren Gültigkeit abgelaufen sind (z.B. HbA1c nach 3 Monaten) gekennzeichnet. Die Werte und Bestimmungsdaten werden dabei direkt aus dem Praxisinformationssystem bezogen.
- Chronischer Pfad: Unterstützung bei der Beratung durch Medizinische Praxiskoordinatorinnen klinischer Richtung. Mit wenigen Klicks sind wichtige Beratungsinhalte dokumentiert und werden als Freitext in die elektronische Krankengeschichte geschrieben.
- Einfache gegenseitige Benachrichtigungen im Behandlungsteam
- Wissensunterstützung: Im gesamten Konsultations-Workflow und den Beratungsmodulen sowie beim akuten Pfad können die Benutzerinnen und Benutzer auf jedem Screen durch Klick auf einen Informations-Button direkt die themenbezogene Wissensunterstützung aufrufen (z.B. für Diagnosekriterien, Risikoeinschätzung, Abklärung, Therapie).
- Akuter Pfad: Schrittweise geführte Diagnose, Triage, Beratung und Behandlung von Patientinnen mit unkomplizierten Harnwegsinfektionen durch Medizinische Praxisassistentinnen gemäss den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie. Sämtliche Fragen und angeklickten Antworten werden automatisch protokolliert und als lesbares PDF-Dokument in die Krankengeschichte der Patientin abgelegt.
- Bei Zustimmung der Patienten kann mit Anklicken einer Check-Box mit zwei Wochen Latenz eine automatische SMS ausgelöst werden, welche die Patienten zu einer anonymen Umfrage (PREMs und PROMs) mit nur wenigen Fragen führt (einmal pro Jahr bei den chronischen Pfaden, nach jedem abgeschlossenen akuten Pfad).
Nach erwartungsgemässer anfänglicher Zurückhaltung, wird die Software zunehmend genutzt. 18 Monate nach Inbetriebnahme nehmen 100 % der insgesamt 20 MPKs für ihre Beratungen und Konsultationen diese Software in Anspruch. 65.3 % von 124 Ärztinnen und Ärzten dokumentierten bereits mehrere Konsultationen bei Menschen mit arterieller Hypertonie und/oder Diabetes mellitus mit der Software, 51.6 % nutzen sie regelmässig.
Ende 2022 waren insgesamt 2850 Patienten mit arterieller Hypertonie und Diabetes mit Unterstützung der Software behandelt worden, Anfang November 2023 waren es 4874 mit Hypertonie, Diabetes und Prädiabetes. Bis Anfang November 2023 wurden insgesamt 211 unkomplizierte Harnwegsinfekte nach systematischer Triage erfolgreich durch MPAs beraten und behandelt. Der durchschnittliche Mehraufwand pro Beratung (ohne Triage, die schon früher Aufgabe der MPA war) liegt bei 11 Minuten. Demgegenüber steht jeweils eine eingesparte Arztkonsultation.
Die mit den Zahlen von 2022 generierten Outcomes zeigen interessante Resultate, zum Beispiel: Die Guideline-Adhärenz bei der Betreuung von Diabetikern ist MIT Einbezug MPKs in mehreren Bereichen besser als OHNE MPKs. Dies betrifft vor allem augenärztliche und Fusskontrollen. Die Resultate führten zu einer internen Sensibilisierungs-Kampagne, die bereits erste Früchte trägt.
Die Software erlaubt uns auch Einblicke in die Behandlungsqualität, wie sie zuvor nicht möglich waren. So können wir beispielsweise aufzeigen, wie viele Diabetiker mit Mikroalbuminurie eine Therapie mit einem ACE-Hemmer oder AT-2 Antagonisten erhalten.
Patientinnen und Patienten sind gemäss erster Zahlen (das Feedback-Modul ist erst seit kurzem in Betrieb) mit ihrer Betreuung sehr zufrieden. Patientinnen mit unkompliziertem Harnwegsinfekt geben im Jahr 2023 durchschnittlich 8.6 von 10 Punkten auf die Frage, ob sie diese telefonische Behandlung durch die MPA weiterempfehlen würden. Und bei den chronischen Pfaden werden 8.7 von 10 Punkten vergeben.

Ausblick
Die Sanacare AG hat die neue Software Sanaguide® zur Implementierung von Guidelines in den klinischen Alltag entwickelt, die in ihren hausärztlichen Gruppenpraxen im Einsatz ist. Diese Software ist zurzeit in der Schweiz einzigartig. Sanaguide® ist eigenständig und könnte mit entsprechend programmierten Schnittstellen mit verschiedenen modernen, Browser-basierten Praxisinformationssystemen verbunden werden. Wir selbst planen die kontinuierliche Weiterentwicklung dieses Produkts, beispielsweise entwickeln und implementieren wir weitere akute und chronische Pfade, verbessern die Benutzeroberfläche kontinuierlich und werden das Medizinprodukt zeitnah nach MDR zertifizieren lassen

Interessensverbindung

Die Entwicklungskosten der Software Sanaguide ® wurden vollumfänglich durch die Sanacare AG übernommen. Software-Entwicklungspartner ist inacta. Zum Zeitpunkt der Implementierung arbeiteten die involvierten Sanacare-Gruppenpraxen mit dem Praxisinformationssystem Axenita ® der Firma Axonlab AG. Interessenskonflikte existieren nicht.

Weitere Informationen und Kontakt

Sanacare AG 
Dr. med. Marc Jungi 
Leiter Medizin, Innovation und Managed Care 
Schützenstrasse 1 
Postfach 
8401 Winterthur 

Mail: [email protected] 

Sanacare AG, Winterthur
Dr. med. Adrian Göldlin
c/o Sanacare Gruppenpraxis Bern, Schanzenstrasse 5/Welle 7
3008 Bern

E-Mailadrian.goeldlin
Tel+41 31 385 71 11

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