In den letzten Wochen erlangte die Motion 23.4088 [1] von Peter Hegglin – Mitte-Ständerat, Verwaltungsrat santésuisse und Präsident RVK – grosse Aufmerksamkeit in Politik und Medien: Nachdem die kleine Kammer bereits im September 2024 der darin verlangten «Lockerung des Vertragszwangs im KVG» zugestimmt hatte, entschied am 13. März auch der Nationalrat mit 113 zu 72 Stimmen und 6 Enthaltungen, der Bundesrat möge eine Gesetzesvorlage ausarbeiten, wie der sogenannte «Vertragszwang» oder auch «Kontrahierungszwang» gelockert werden könne [2].
Das KVG kennt keinen Zwang – nur ein Gleichgewicht von Pflichten
Tatsächlich kommt das Wort «Zwang» im Krankenversicherungsgesetz KVG kein einziges Mal vor. Stattdessen formuliert das KVG sehr viele Pflichten. Mit Abstand am häufigsten nennt es die Versicherungspflicht und die Prämienzahlungspflicht. Hinzukommen viele Pflichten von Akteuren wie Leistungserbringern und Krankenkassen. Im Ergebnis verpflichtet das Gesetz alle Einwohnenden der Schweiz eine Versicherung abzuschliessen und bestimmt gleichzeitig, wer im Rahmen dieser Grundversicherung Leistungen erbringen darf. Indem das KVG sowohl die Zulassung regelt als auch einen Tarifvertrag zwischen Krankenkassen und den zugelassenen Leistungserbringern fordert, entsteht für die Kassen die Verpflichtung die nach diesem Gesetz erbrachten Leistungen gemäss Tarifvertrag zu vergüten.
Wer von Vertragszwang spricht, sollte auch von Zwangsversicherten reden
Von den vielen Pflichten vieler Akteure im KVG ausschliesslich eine hervorzuheben und als «Zwang» zu brandmarken, ist darum als klassisches politisches Framing zu verstehen. Dieses Deutungsmuster des Zwangs hat sich über die Jahrzehnte jedoch sehr erfolgreich etabliert: Gesetzesvorlagen, Medienberichte, Ökonomen – alle sprechen heute vom «Vertragszwang» obwohl man genauso von einer «Vertragspflicht» sprechen könnte. Die Forderung einen Zwang abzuschaffen, verfängt natürlich leichter als die Forderung sich einer Pflicht entledigen zu können. Doch wer vom «Vertragszwang» spricht, sollte konsequent auch von Zwangsversicherten, vom Datenlieferungszwang oder dem Aufnahmezwang der Listenspitäler sprechen.
«Vertragsfreiheit» gibt es bereits – im Gegenzug für Prämienreduktionen
Die Pflicht der Grundversicherer die Leistungen aller zur Grundversicherung zugelassenen Leistungserbringer vergüten zu müssen, bildete seit Inkrafttreten des KVG 1996 einen zentralen Grundpfeiler unseres Gesundheitswesens. Das KVG ermöglichte jedoch auch von Anfang an Einschränkungen – unter definierten Bedingungen in alternativen Versicherungsmodellen (AVM). So hielt bereits die Botschaft zum KVG im Jahr 1991 klar fest: «Der Einschränkung der freien Wahl des Leistungserbringers steht eine reduzierte Prämie und die Möglichkeit des Wegfalls der obligatorischen Kostenbeteiligung gegenüber» [3, S.128].
Forderung 1: Marktausschluss gegen die «stete Zunahme der Leistungserbringer»
Obwohl die Krankenversicherer also seit jeher im Rahmen alternativer Versicherungsmodelle «Vertragsfreiheit» geniessen, wurde die im KVG verankerte grundsätzliche Vertragspflicht immer wieder in Frage gestellt. Seit Jahrzehnten werden dabei immer wieder dieselben zwei Hauptargumente ins Feld geführt. Das erste wirbt mit Kostendämpfung durch eine Begrenzung des Leistungsangebots: Wegen der Vertragspflicht hätten die Versicherer «keine Mittel zur Unterbindung derjenigen Mengenausweitung, welche durch die stete Zunahme von Leistungserbringern bedingt ist» [4,5, S.4294]. Sie sollen darum neu «die Möglichkeit haben, [Leistungserbringer] aus diesem Markt auszuschliessen» [5, S. 4294], um zu verhindern, dass die Grundversicherung durch zu viele Fachpersonen belastet wird.
Forderung 2: Versicherer sollen Qualität definieren – nicht Gesetzgeber oder Patienten
Das zweite Hauptargument bezieht sich auf die Qualität: Nur bei einer Wahlfreiheit der Krankenversicherer könnten diese qualitativ ungenügend arbeitende Leistungserbringer ausschliessen. Damit wären nicht mehr die Qualitätsansprüche des Gesetzgebers und der Patienten entscheidend, sondern die selektiven Verträge der Versicherer. Und diese könnten auch qualitativ hochwertig arbeitende Leistungserbringer ausschliessen - trotz gesetzlicher Zulassung.
Seit der Jahrtausendwende dieselbe Idee gegen die «Ärzteflut»
Die Entbindung der Krankenkassen von ihrer Vertragspflicht ist in den letzten Jahrzehnten im Parlament immer wieder diskutiert und immer wieder verworfen worden. Erstmals fand diese Diskussion in den Jahren 1999 und 2000 statt [6]. Im Rahmen der ersten KVG-Revision verlieh das Parlament dem Bundesrat die Kompetenz «in Anbetracht der befürchteten ‘Ärzteflut’» [6] und der neuen bilateralen Verträge [7] die Zulassung neuer Leistungserbringer von «einem Bedarfsnachweis» abhängig zu machen [5]. Damit war die Zulassungsregelung mit Hilfe des Artikels 55a KVG geboren. Diese wurde jedoch befristet, um gleichzeitig «die Aufhebung des Vertragszwanges zwischen Kassen und Leistungserbringern» zu prüfen [6]. Trotz Befürchtungen, dass Versicherte so «ihren langjährigen Arzt verlieren» und betroffene Ärzte und Ärztinnen faktisch einem «Berufsverbot» unterlägen [6], vertagte das Parlament, die «Aufhebung des Vertragszwangs» als Massnahme gegen die «Ärzteschwemme» auf die nächste KVG-Revision [8].
Eine grosse Allianz aus Artiset, ChiroSuisse, FAMH, FMH, FSP, H+, ivr-ias, pharmaSuisse, physioswiss, SBK-ASO und SHV hat das Parlament im Vorfeld der Diskussion mit folgenden Argumenten gegen die Motion 23.4088 bedient.
Stark regulierte «Freiheit» gegen «das Wachstum der Ärztedichte»
Entsprechend legte der Bundesrat für die zweite KVG-Revision einen Vorschlag zur «Aufhebung des Kontrahierungszwangs» im ambulanten Bereich vor. Obwohl diese Aufhebung vielfach als «untauglich und unpraktikabel» [4] eingestuft wurde, stimmte der Ständerat grossmehrheitlich dafür, damit «das Wachstum der Ärztedichte gebremst» [4] werde. Um eine «Übermacht der Krankenversicherer» [4] zu verhindern, setzte er jedoch enge Grenzen: Die Versorgungssicherheit müsse gewährleistet bleiben, chronisch Kranke den «Arzt ihrer Wahl» [4] behalten und die Ärzteschaft mit den Kassen die Bedingungen für einen Kassenvertrag selbst aushandeln können. Zudem sollte eine tripartite Schiedskommission aus Ärzte-, Kassen- und Kantonsvertretenden als Beschwerdeinstanz dienen. Später wurden noch zusätzliche Ausnahmen ergänzt – wie eine Vertragsgarantie für Ärztenetzwerke. Trotzdem blieb von rechts bis links die Sorge bestehen, dass die Aufhebung der freien Arztwahl zur Zweiklassenmedizin führe. In der Folge scheiterte die gesamte KVG-Revision im Jahr 2003 in der Schlussabstimmung.
Der nächste Vorstoss zur «Beschränkung des Überangebots»
Da die befristete Zulassungsregelung über den Artikel 55a KVG bald wieder auslief und eine dauerhafte Lösung gefunden werden sollte, legte der Bundesrat im Jahr 2004 erneut einen Vorschlag vor [5,7]. Doch auch der neue bundesrätliche Entwurf einer «Vertragsfreiheit» für sämtliche ambulanten Gesundheitsfachpersonen überzeugte das Parlament nicht. Der Bundesrat selbst sah die Gefahr, dass die Kassen Leistungserbringer mit vielen ‚teuren‘ Patienten benachteiligen würden, so dass die Leistungserbringenden «ihrerseits ermuntert würden […] sich der Patientinnen und Patienten zu entledigen, die besonders hohe Kosten verursachen» [5, S.4303]. Weil auch alternative Modelle keine Mehrheiten fanden [7] und die Frage der «Vertragsfreiheit» in die Managed Care-Revision eingebunden werden sollte [9], erledigte sich auch diese Vorlage im Jahr 2008 und 2010 durch Nichteintreten des Ständerats bzw. Nationalrats [7].
Immer wieder eingebracht – immer wieder gescheitert
Die Vertragspflicht der Kassen blieb jedoch ein wichtiges Thema. Im Juni 2012 scheiterte die Managed Care-Vorlage mit 76% Nein-Stimmen nicht zuletzt, weil sie die freie Arztwahl tangierte. Auch durch die beständigen Verlängerungen der befristeten Ärztesteuerung über den Art. 55a KVG in den Jahren 2005, 2008, 2013, 2016 und 2019 blieb die «Vertragsfreiheit» auf der Agenda. Nachdem Ende 2015 eine Verstetigung des Artikels 55a KVG scheiterte, forderte die SGK-S Anfang 2016 vom Bund eine neue Auslegeordnung. Diese sollte neben einer Steuerung über Ober- und Untergrenzen oder über Tarife auch eine Lockerung der Vertragspflicht als Möglichkeit prüfen [10]. Im Mai 2017 forderte dann die um «medizinische Überversorgung» [11] besorgte SGK-N das Modell zur «Vertragsfreiheit» von 2004 erneut zu diskutieren [17.442, 12]. Die SGK-S unterstützte dieses Anliegen – explizit um im Vorfeld der neuerlichen Diskussion über die Zulassungssteuerung «ein Zeichen für die Lockerung des Vertragszwangs» zu setzen [13]. Doch trotz all dieser Vorstösse und Entscheide konnte die Lockerung der Vertragspflicht wieder nicht überzeugen [14]: Nach intensiven Diskussionen eines neuen Gesetzesentwurfs [15] von 2018 bis 2020, verabschiedete das Parlament im Juni 2020 mit grosser Mehrheit die im Juli 2021 eingeführte Zulassungsregelung – ohne die Vertragspflicht zu lockern.
«Vertragsfreiheit»: Eine untaugliche «Lösung», zu der es nicht einmal ein Problem gibt
Der Rückblick zeigt: Die Forderung nach «Vertragsfreiheit» ist bereits in sämtlichen Varianten vom Parlament diskutiert – und immer wieder abgelehnt worden. Dieselbe Forderung nach jahrzehntelangem Scheitern und kurz nach der Einführung eines hart erarbeiteten Kompromisses erneut einzubringen, erscheint grotesk. Dies umso mehr als sich die Kernargumente für dieses Anliegen mittlerweile vollständig überlebt haben: Laut OECD leiden aktuell 20 europäische Länder unter einem Ärztemangel [16] – und laut BAG kamen in den letzten zehn Jahren über 70% unserer neuen Ärzte und Ärztinnen aus dem Ausland [17]. Während allerorts eine Zuspitzung des Mangels und medizinische Wüsten drohen – möchte die Motion Hegglin immer noch der «Überversorgung» beikommen.
Die Forderung einer «Vertragsfreiheit» hat sich überlebt
Doch nicht nur die Verfügbarkeit von Fachkräften, auch die Gesetzgebung hat sich stark verändert: Angesichts der heutigen mehrstufigen Zulassungsregulierung durch Bund und Kantone lassen sich zusätzliche Beschränkungen durch Krankenversicherer schwer begründen. Auch die Qualitätsvorgaben sind in den letzten Jahren massiv verschärft worden. Als die «Vertragsfreiheit» erstmals gefordert wurde, gab es noch keine Zulassung mit Qualitätskriterien, kein Gesetz zu Qualität und Wirtschaftlichkeit, keine seitenlangen Qualitätsparagraphen im KVG oder eidgenössischen Qualitätskommissionen und bundesrätlichen Qualitätsziele.
Vorteile können bereits heute realisiert werden
Wo die Kassen die Vorgaben des Gesetzgebers als unzureichend betrachten, können sie zudem bereits heute in alternativen Versicherungsmodelle selektive Verträge mit Ärztinnen und Ärzten abschliessen. Sofern diese Modelle tatsächlich Kosten- oder Qualitätsvorteile bringen, werden sie die Versicherten überzeugen. Tun sie es nicht, ist es wohl besser, wenn sich die Selektion der Krankenversicherer im Wettbewerbsdruck bewähren muss – und den Versicherten nicht per Gesetz aufgezwungen wird.
Eine Pflicht ist kein Zwang – und zusätzliche Regulierung keine Freiheit
Letzteres deutet ein weiteres Problem an: Die sogenannte «Vertragsfreiheit» brächte keineswegs mehr Freiheit. Entweder würden Versicherte und Leistungserbringer neu den Entscheidungen der Versicherer ausgeliefert – oder es bräuchte weitreichende flankierende Massnahmen wie in den Entwürfen der letzten Jahrzehnte. Was im Gewand der «Freiheit» daherkommt, wäre in Tat und Wahrheit schlicht eine administrationsintensive zusätzliche Regulierungsstufe: Bestehende Regulierungen würden durch neue Beschränkungen der Kassen und viele Auflagen ergänzt. Der Bundesrat ist nicht zu beneiden nun infolge der Motion Hegglin erneut einen Vorschlag zu «Vertragszwang» und «Vertragsfreiheit» ausarbeiten zu müssen: Hinter dem vermeintlichen «Zwang» verbirgt sich eine einfache «Pflicht» und hinter der vermeintlichen «Freiheit» mehr Zwänge und Regulierungen. Der Vorschlag kann also nur eine Mogelpackung sein – und das Parlament wird dies wohl auch – mal wieder – erkennen.