Yvonne Gilli, man hört immer wieder, dass das Jahr 2024 aus gesundheitspolitischer Sicht ein Ausnahmejahr war. Teilst du diese Einschätzung?
Yvonne Gilli (YGI): Es ist offensichtlich, dass die gesundheitspolitischen Massnahmen – wie zusätzliche Regulierungen und parlamentarische Vorstösse – stetig zugenommen haben und 2024 nochmals spürbar an Dynamik gewonnen haben. Für die FMH kamen gleich drei wichtige Anliegen zusammen: zwei Abstimmungen, die wir erfreulicherweise gewinnen konnten, und unsere jahrelange Arbeit an der Reform des ambulanten Tarifs. Das war ganz schön viel für ein einziges Jahr.
Stefan Kaufmann, du sprichst in deinem letzten SÄZ Editorial vom «Jahr der Weichenstellung». Was macht 2024 so besonders, dass es für dich auch in zehn Jahren noch präsent sein wird?
Stefan Kaufmann (SKA): Zwei Punkte: Erstens die einheitliche Finanzierung – ein Zehn-Jahres-Projekt für die FMH, aber ein 25-Jahres-Projekt für die Schweizer Gesundheitspolitik. Eigentlich hätte diese Reform schon vor der neuen Spitalfinanzierung umgesetzt werden sollen, aber wie so oft in der Schweiz brauchte es viele Anläufe. Ich halte sie für eine der wichtigsten Reformen seit Inkrafttreten des KVG 1996. Zweitens die Tarifreform. Der ambulante Tarif TARMED wurde 2004 eingeführt; auch das war ein langer Prozess. Betrachtet man aber die Ablösung von TARMED bis heute, so zeigt sich, dass die Entwicklung der neuen ambulanten Tarifstruktur noch länger gedauert hat. Dies zeigt einerseits, wie zäh Reformen in der Schweiz sein können, andererseits aber auch, dass Lösungen in der Schweiz möglich sind – allerdings in einem langwierigen Prozess. Beide Entwicklungen zeigen sehr gut, wie die Schweizer Gesundheitspolitik funktioniert.
Das Schweizer Stimmvolk hat im Juni die Kostenbremse-Initiative abgelehnt und im November die Reform zur einheitlichen Finanzierung angenommen. Welche Signale senden diese Entscheide einerseits an die Gesundheitspolitik und andererseits an die Ärzteschaft?
YGI: Man muss sich immer die Ausgangslage vor Augen halten, dass wir eines der qualitativ besten Gesundheitssysteme der Welt haben. Nicht nur wegen der hohen Standards, sondern auch, weil teure Behandlungen für alle in der Schweiz lebenden Menschen zugänglich sind. Es gibt aber keine Garantie, dass dies so bleibt. Die beiden Volksabstimmungen haben gezeigt, dass unser Gesundheitssystem reformfähig ist, dass wir es zeitgemäss weiterentwickeln können und dass die hohe Qualität erhalten bleibt. Das ist für die Motivation, Ärztin oder Arzt zu werden, enorm wichtig. Ebenso zentral ist die Gewissheit für die Bevölkerung, dass jeder, der eine Behandlung braucht, diese auch erhält.
SKA: Die Schweizerinnen und Schweizer haben sich klar für eine zugängliche und qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung ausgesprochen. Gesundheitssysteme sind sehr national geprägt, deshalb ist uns oft gar nicht bewusst, wie privilegiert wir hier sind. Ich habe in den letzten 25 Jahren viele verschiedene Gesundheitssysteme kennen gelernt, da wird man schnell demütig. Der Vergleich mit dem Ausland zeigt aber auch, dass der Abstand zu den umliegenden Ländern kontinuierlich kleiner wird. Wir müssen also sorgsam damit umgehen, und dafür setzt sich die FMH täglich ein.
Die FMH hat sich aktiv gegen die Kostenbremse und für die einheitliche Finanzierung engagiert. Welche Lehren zieht der Verband daraus?
YGI: Wir haben uns schon lange nicht mehr so aktiv in einen Abstimmungskampf eingemischt, das war eine Art Test. Wir haben viel gelernt – schon zwischen der ersten Abstimmung im Juni und der zweiten im November. Zentral ist sicher, dass wir alle Ärztinnen und Ärzte erreichen, vor allem in den Regionen und in den Spitälern. Sie haben den direkten Kontakt zu den Patientinnen und Patienten und sind die Botschafter unserer Anliegen. Deshalb müssen unsere Mitglieder verstehen, warum sie von den politisch geplanten Veränderungen konkret betroffen sind, und sie brauchen über zeugende Argumente. Zudem kann die Ärzteschaft in einer immer komplexeren und dynamischeren Welt Abstimmungen nicht im Alleingang gewinnen. Die Zusammenarbeit mit an deren Gesundheitsberufen wird immer wichtiger und war mit entscheidend für den Erfolg. Schliesslich haben wir gesehen, dass Erfolge keineswegs garantiert sind. Insbesondere bei der einheitlichen Finanzierung war es bis zum Schluss eng. Gewonnen ist gewonnen, aber es braucht das Engagement vieler.
SKA: Mich hat beeindruckt, wie wir unsere Basis mobilisieren konnten. Viele Ärztinnen und Ärzte haben sich engagiert – vor allem bei der zweiten Abstimmung, trotz des intensiven Jahres. Wir haben auch gemerkt, wie wichtig heute die sozialen Medien sind. Dort konnten wir viele Menschen noch besser und gezielter erreichen.
Damit haben wir für die weitere externe und interne Kommunikation viel gelernt …
YGI: Absolut. Ich bin auch überzeugt, dass die Kommunikation nach innen immer wichtiger wird. Weil die Ärztinnen und Ärzte in ihrem Alltag stark gefordert sind, müssen wir sie standespolitisch abholen, ohne sie mit Informationen zu überfluten. Das bedeutet: Gezielte Information und Mobilisierung, wo und wie Engagement notwendig oder sinnvoll ist. Ebenso wichtig ist es, unsere Mitglieder auf dem ganzen Weg mitzunehmen. In der FMH arbeiten wir ständig an Themen und plötzlich wird eines davon akut relevant. Bis dahin ist aber oft ein langer Prozess nötig – wir haben gelernt, dass wir diesen für unsere Mitglieder sichtbarer machen müssen.
Dies gilt ebenso für das dringendste Thema für die Ärzteschaft: die ambulante Tarifrevision. Der Bundesrat hat beschlossen, dass TARMED per 2026 vom neuen Tarif (TARDOC und ambulante Pauschalen) abgelöst wird. Was bedeutet das für die Ärzteschaft?
SKA: Mit dem neuen Tarifsystem kommen wir der heutigen Versorgungsrealität wieder näher. TARMED ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr zeitgemäss, wie beispielsweise die aktuelle Diskussion um die Notfall-Inkonvenienzpauschalen zeigt. Die medizinische Versorgung verändert sich rasant. Deshalb ist es entscheidend, dass die Leistungen zeitgemäss abgebildet werden – denn das bestimmt, wie die Menschen konkret versorgt werden. Mit der Tarifreform haben wir die Möglichkeit, die Strukturen kontinuierlich weiterzuentwickeln und rasch an den medizinischen Fortschritt anzupassen.
Die FMH hat intensiv mit den anderen Tarifpartnern verhandelt und schliesslich das Gesamtpaket zusammen mit flankierenden Massnahmen eingereicht. Welches waren die grössten Herausforderungen?
YGI: Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, weil der TARMED seit rund 20 Jahren nicht gepflegt werden konnte und sich viel Frust aufgebaut hat. Wir müssen aufzeigen, dass mit der Reform nun eine kontinuierliche Weiterentwicklung möglich ist. Gleichzeitig müssen wir aufzeigen, wie der Prozess abläuft und wer für welche Entscheidungen verantwortlich ist. Eine Tarifreform bedeutet, viele Fehltarifierungen zu korrigieren, sowohl Unter- als auch Übertarifierungen. Dass dies kosten neutral geschehen muss, liegt nicht in der Verantwortung der FMH, sondern ist eine politische Entscheidung. Das bedeutet automatisch, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Natürlich wollen alle gewinnen und keiner verlieren. Wichtig ist, dass man sich nicht gegeneinander ausspielen lässt. Es geht um einen fairen, zeitgemässen Tarif für alle. Unser Ziel ist es, diese Reform gemeinsam mit unseren Mitgliedern zukunftsge richtet voranzutreiben und dabei ihr Vertrauen und die Mitgestaltungskraft der FMH zu erhalten.
Was hätte es bedeutet, wenn mit den Tarifpartnern oder innerhalb der FMH keine Lösung gefunden worden wäre?
YGI: Chancen und Risiken müssen immer sorgfältig abgewogen werden. Für diejenigen, die mit dem jetzigen Zwischenergebnis unzufrieden sind, wäre ein Scheitern viel leicht ein Wunschszenario gewesen. Das hätte aber bedeutet, dass wir in Zukunft (wahrscheinlich dauerhaft) mit einem staatlich verordneten Tarif leben müssten. Ein Blick ins Ausland zeigt, wie abhängig man dann von politisch definierten Globalbudgets wird. Angesichts der aktuellen Haushaltsdebatten im Parlament unter dem Damoklesschwert der Sparmaßnahmen wäre das für uns sicher keine gute Perspektive. Zudem würden die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Ärzteschaft für angemessene Tarife eingeschränkt.
Anfang November haben die Tarifpartner das Genehmigungsgesuch eingereicht. Wie stehen die Chancen, dass 2026 ein sachgerechtes Tarifsystem vor liegt?
SKA: Entscheidend ist, dass wir 2026 mit dem neuen Tarif starten können. Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass dieser noch nicht in allen Bereichen sachgerecht sein wird. Deshalb haben wir den Auftrag, insbesondere bei den Pauschalen noch an der Sachgerechtigkeit zu arbeiten. Aber auch der Einzelleistungstarif TARDOC selbst muss gepflegt werden, da sich seit 2019 einiges angesammelt hat, was zeit nah und sachgerecht eingearbeitet werden muss. Diese Arbeiten werden uns nicht erst 2026 beschäftigen, sondern bereits Anfang 2025 fordern.
Gefordert ist die FMH auch mit der Schweizerischen Ärztezeitung SÄZ. War der Konkurs des EMH-Verlags absehbar?
YGI: Wir bedauern den Konkurs der EMH sehr. Er kam für uns überraschend, auch wenn wir wussten, dass grosse finanzielle Herausforderungen bestanden – zum Beispiel durch die digitale Transformation und die allgemeinen Entwicklungen im Verlagswesen. Das sieht man auch bei anderen Verlagshäusern wie Tamedia, die teilweise schmerzhafte Restrukturierungsprozesse durchlaufen. Wenn man ehrlich zurückblickt, stellt man fest, dass die Ärztekammer seit der Gründung der EMH wiederholt finanzielle Sanierungsmassnahmen für den Verlag ergriffen hat, was rückblickend auf eine nicht nachhaltige Finanzierung hindeutet. Zusätzlich eine umfassende digitale Transformation zu stemmen, hat letztlich alle überfordert.
Die FMH hat versprochen, dass die SÄZ als Publikationsorgan der Ärzteschaft erhalten bleibt. Wie wird das beliebte «Gelbe Heft» in Zukunft erscheinen?
SKA: Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die SÄZ zeitgemäss neu zu gestalten. Eine Umfrage bei unseren Mitgliedern hilft uns, deren Bedürfnisse zu erfassen. Diese sind unterschiedlich, nicht zuletzt aufgrund der verschiedenen Generationen. Da die SÄZ unser offizielles Publikationsorgan ist, haben wir auch statutarische Vorgaben zu erfüllen. Gleichzeitig wollen wir unsere Mitglieder besser über unsere Angebote informieren und aufzeigen, wie wir ihre Interessen vertreten. Zudem gibt es unterschiedliche Interessen einer breiten Mitgliederbasis – hier prüfen wir, welche Inhalte für alle Ärztinnen und Ärzte von Nutzen sind.
YGI: Es gibt das Klischee «Politik geht mich nichts an, schon gar nicht Parteipolitik». Standespolitik bedeutet für mich, dass die FMH für gute Rahmenbedingungen sorgt, die den Alltag unseres schönen Berufes prägen. Konkret sollen unsere Mitglieder wissen: Wer in der Schweiz standespolitisch Einfluss nehmen will, muss sich zwangsläufig in die Niederungen der Parteipolitik begeben. Letztlich entscheidet das Parlament. Wir müssen aber so schreiben, dass es für die Mehrheit unserer Mitglieder attraktiv und verständlich ist.
Stefan Kaufmann, Generalsekretär der FMH, und Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH. © Vanessa Oskarsson, FMH
Apropos Standespolitik – Yvonne, du bist im Juni von der Ärztekammer für weitere vier Jahre als Präsidentin bestätigt worden. Was sind deine Ziele in Bezug auf die strategischen Herausforderungen?
YGI: Gegen das Ende der letzten Legislatur haben wir verschiedene Stakeholder gefragt, was die FMH ihrer Meinung nach tun soll. Das Ergebnis: Gesundheitspolitische Entscheidungsträger und viele Ärztinnen und Ärzte halten die FMH zwar für wichtig, wissen aber nicht genau, was sie tut. Das soll sich ändern. Wir wollen deshalb unsere strategischen Schwerpunkte schärfen – mit Fokus auf Entbürokratisierung, Bekämpfung des Fachkräftemangels und Begleitung der Ambulantisierung. Wir dürfen uns als Verband nicht in unzähligen gesundheitspolitischen Themen verlieren, sondern müssen uns konsequent auf die relevanten Themen konzentrieren, bei denen wir wirklich etwas bewegen können. Für unsere Organisationsentwicklung bedeutet dies wiederum, stärker themenorientiert zu arbeiten. Und auf der Ebene des Zentralvorstandes bedeutet es, dass wir noch strategischer agieren müssen.
Es gibt auch neue Gesichter im Zentralvorstand. Was erhofft ihr euch von der neuen Zusammensetzung?
YGI: Wir haben in den letzten Jahren eine sehr gute Kultur der Zusammenarbeit im Zentralvorstand entwickelt. Michael Andor ist nach den Wahlen im Juni neu dazugekommen und Urs Stoffel hat noch ein halbes Jahr verlängert, weil Olivier Giannini sein Amt offiziell im Januar 2025 antritt. Er konnte sich aber bereits in die Strategieentwicklung einbringen. So konnte die neue Strategie im Herbst an der Ärztekammer verabschiedet werden. Der Generationenwechsel ist übrigens einer der Gründe, weshalb wir den Zentralvorstand in Zukunft vermehrt strategisch arbeiten lassen wollen. Nur so können wir das Milizsystem aufrechterhalten. Junge Ärztinnen und Ärzte, die ihre Karriere noch aufbauen, können sich nicht engagieren, wenn sie zu viele Stellenprozente operativ für die FMH arbeiten müssen. In einer strategischen Führungsrolle hingegen, wie man sie aus der Privatwirtschaft von Verwaltungsräten kennt, können sie ihre Karriere weiter vorantreiben und gleichzeitig standespolitisch aktiv sein. Im Moment befinden wir uns im Zentralvorstand also in der Formierungsphase – und das sieht für mich bisher sehr vielversprechend aus.
SKA: Ich habe festgestellt, dass der Zentralvorstand ein sehr erfahrenes Gremium mit einer ausgeprägten guten Diskussionskultur ist. Gerade bei neuen Themen zeigt sich die geballte Kompetenz. Hier haben wir noch Potenzial, uns strategisch zu fokussieren und die vertikale Vernetzung mit unseren Basisorganisationen und Fachgesellschaften zu stärken.
Welche Konsequenzen hat diese Neuausrichtung für das Generalsekretariat?
SKA: Wir können uns auch operativ klarer fokussieren. Wir haben bereits viel Fachkompetenz im Generalsekretariat, und mit der Strategie- und Organisationsentwicklung können wir die Expertise der FMH noch gewinnbringender einsetzen. Das geht aber nicht von heute auf morgen, dieser Prozess wird uns während der ganzen Legislatur begleiten.
Der zweite Teil des Interviews erscheint in der SÄZ vom 29. Januar 2025.
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