FMH – Berufsverband
 

Unsere Erfolge von gestern sind die Herausforderungen von morgen

Neuland gestalten Die vielen Erfolge der FMH im Jahr 2024 werden im neuen Jahr 2025 zu vielen Herausforderungen. Nachdem wir im letzten Jahr erfolgreich durch stürmische Gewässer navigieren konnten, gilt es nun, sicher anzulegen und gut gerüstet mit den richtigen Instrumenten das erreichte Neuland zu gestalten. Damit stellt sich die Ärzteschaft vielen komplexen Aufgaben.
Dr. med. Yvonne Gilli, Präsidentin der FMH

Dr. med. Yvonne Gilli
Präsidentin der FMH

Wäre die FMH ein Schiff, hätte sie im letzten Jahr viele Klippen umschifft und mehrere Havarien vermieden. Zuerst konnte unser politisches Engagement im Juni 2024 die sogenannte «Kostenbremse» verhindern, die den Untergang einer bedarfsgerechten Patientenversorgung bedeutet hätte. Dank unseres grossen Einsatzes konnte 2024 auch ein Staatstarif für ambulante Leistungen verhindert – und eine tarifpartner schaftliche Lösung verabschiedet werden, die den TARDOC übernimmt und klare Anforderungen an sachgerechte ambulante Pauschalen festhält. Und letztlich hat das grosse Team unserer Flotte auch erreicht, dass die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (EFAS) nach 14jähriger Reise trotz vieler Angriffe keinen Schiffbruch erlitt, sondern im November 2024 endlich erfolgreich in den Hafen einlief.

Den Entscheidungen von 2024 folgt Detailarbeit in 2025
Das Jahr 2024 war also geprägt von gut sichtbarer und auch sehr erfolgreicher standespolitischer Arbeit vieler Ärztinnen und Ärzte. Mit der Umsetzung des Gegenvorschlags zur «Kostenbremse», der Revision des Arzttarifs und von EFAS stehen den politischen Entscheidungsträgern aber auch neue komplizierte Steuerungsinstrumente zur Verfügung, die es nun in einem komplexen Gesundheitssystem optimal anzuwenden gilt. Die ärztliche Standespolitik der nächsten Jahre wird viel mit der erfolgreichen Umsetzung dieser Entscheide beschäftigt sein, denn die Rahmenbedingungen unseres Berufslebens hängen stark von den Details dieser Ausgestaltung ab. Diese Arbeit wird weniger sichtbar sein als die grossen Kampagnen des Jahres 2024 – aber nicht weniger anspruchsvoll.

Mitgestaltung ist kein Kampf zwischen Gut und Böse
Bei einer guten Ausgestaltung der neuen Regelungen werden uns nicht nur die üblichen und offensichtlichen gesundheitspolitischen Hürden beschäftigen – sondern auch die übergreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen, in die sie eingebettet sind. Angesichts der zunehmenden Komplexität vieler Herausforderungen neigt unsere Gesellschaft immer stärker zu unzutreffenden Vereinfachungen – und damit auch zunehmender Polarisierung. Gerade in der Komplexität der Gesundheitspolitik werden häufig polarisierende Vereinfachungen gepflegt. Auch die Ärzteschaft war davon in der Vergangenheit nicht frei: Konstruktive Diskussionen über sachgerechte ambulante Tarife sind leider viel anspruchsvoller als einfache Narrative über gute Hausärztinnen und -ärzte gegen böse Spezialärztinnen und -ärzte oder polarisierende Bilanzierungen über Gewinner und Verlierer bei der kostenneutralen Tarifeinführung. Nach haltige Erfolge erfordern aber die Überwindung solcher allzu simplen Denkmuster.

Regulierung verspricht Ordnung in einer komplexen Welt
Die Fehleranfälligkeit solcher Vereinfachungen hat der provokante australische Wissenschaftler und Kulturkritiker Tyson Yunkaporta [1] sehr treffend for muliert: «Die Reduktion einer Auseinandersetzung auf gut und böse entspricht in Wirklichkeit einer Überhöhung von Stumpfheit und Simplizität gegen über Wissen und Komplexität». Und aus diesem Problem ergibt sich eine weitere Täuschung: «Die Welt durch die Brille der Einfachheit zu betrachten, scheint die Dinge immer komplizierter und gleichzeitig weniger komplex zu machen». Dieses Phänomen dürfte auch ein wichtiger Grund für die ausufernde und vielfach dysfunktionale Regulierung sein – über die Schweiz und das Gesundheitswesen hinaus: Regulierungsvorhaben leben von dem Versprechen, Ordnung in eine komplexe Welt zu bringen. Regulierungen betrachten die «Welt durch die Brille der Einfachheit», indem sie Ausschnitte aus einem komplexen System isolieren und als einfach handhabbar erscheinen lassen. Real können sie der Komplexität aber vielfach nicht gerecht werden, sondern verkomplizieren den Status quo und verschlechtern ihn oft sogar.

Gute Mitgestaltung muss Komplexität anerkennen
Bei der Mitgestaltung der Umsetzung umfassender Revisionen in den kommenden Jahren stellen sich folglich nicht nur politischsachliche Herausforderungen. Wir agieren in einem Umfeld mit sehr hoher Komplexität, das zu vielen schädlichen Schwarz-Weiss- und Gut-Böse-Vereinfachungen einlädt. Durch die hohe Komplexität haben auch überbordende Regulierungen ein leichtes Spiel, weil ihr falsches Versprechen einfacher Lösungen vielen attraktiver scheint. Selbst Ärztinnen und Ärzte, die stark unter der Mikroregulierung leiden, rufen bei Problemen nicht selten nach noch kleinteiligeren Vorgaben. Diese können in unserem komplexen Gesundheitssystem jedoch meist keine Verbesserungen erreichen. «Werfen wir die Flinte ins Korn», betitelt die Professorin Sabina Heuss [2] ihren Artikel zum Thema Komplexität im Gesundheitswesen. Damit meint sie aber nicht, dass die Akteure die Hände in den Schoss legen sollen. Vielmehr sollten wir diese Komplexität anerkennen und geeignete Instrumente zur Mitgestaltung nutzen.

Die Ärzteschaft kennt die Schnittstellen genau
Gerade für uns Ärztinnen und Ärzte liegt in der hohen Komplexität auch eine grosse Chance und Verpflichtung, weil wir über die hierfür notwendige Expertise verfügen. Wir sind nicht nur im Umgang mit komplexen medizinischen Problemen und Lebenssituationen geschult. Wir sehen auch täglich, wie weit unser komplexes, regulierendes System dieser grossen Vielfalt gerecht wird – und wo es an Grenzen stösst. Wir arbeiten genau an der Schnittstelle zwischen der medizinischen Versorgung und Patientenbeziehung einerseits und dem Krankenversicherungsgesetz und vielen extrem technischjuristischen Vorgaben andererseits. Dies gibt uns viel Wissen über die Möglichkeiten, aber auch Fallstricke in der Systemgestaltung. Wir wissen, was mit Regulierungen er reicht werden sollte – und was dabei praktisch herauskommt. Und wir können gut abschätzen, wie sich neue Gesetze und Verordnungen in der Praxis der Pratientenversorgung auswirken würden.

Komplexität erfordert Knochenarbeit …
Für uns wird dies in 2025 heissen: Wir werden die gewohnte Knochenarbeit fortsetzen und alle umzusetzenden Revisionen in ihrer ganzen Komplexität und bis ins Detail verfolgen. Wir werden unsere Expertise über die Praxistauglichkeit der Vorhaben einbringen und auch dort mitgestalten, wo wir nur ein Akteur unter vielen sind. Aber gerade dort, wo unsere Einflussmöglichkeiten grösser sind – wie bei der Umsetzung der ambulanten Tarifreform – werden wir die Vorhaben als grosses gemeinsames Projekt anpacken, um nicht am Spiel mit Gewinnern und Verlierern zu scheitern.

… Komplexität erfordert aber auch Beziehungsarbeit
Eine erfolgreiche politische Zusammenarbeit braucht aber auch bei unseren Partnern und vor allem in der Politik die Einsicht, dass die Weiterentwicklung komplexer Systeme deutlich mehr verlangt als das intellektuelle Erfassen von Interaktionen. Sollen sich komplexe Systemen erfolgreich weiterentwickeln, versagen Top-Down-Regulierungen, wie wir sie täglich umsetzen müssen. Stattdessen braucht es die Partizipation, Innovation und intrinsische Motivation aller Beteiligten. Der indigene ausstralische Wissenschaftler Tyson Yunkaporta stellt dem aktuellen Top-Down-Ansatz unserer Gesundheitspolitik eine Kultur mit den Leitgedanken «Respect, Connect, Reflect, Direct» gegenüber. Für die Standespolitik hiesse das, mit den betroffenen Akteuren zuerst eine respektvolle und positive Beziehungskultur zu etablieren, um dann von einer gemeinsamen Reflexion ausgehend einen Plan und schlussendlich die Handlung abzuleiten. Damit träten isolierte Indikatoren in den Hintergrund zugunsten einer Beziehungskultur, die eine nachhaltige von intrinsischer Motivation getragene Veränderung und Weiterentwicklung ermöglicht.

Nun gilt es an unsere Erfolge anzuknüpfen – und die standespolitische Mitgestaltung auszubauen
In 2024 ist uns viel gelungen – dank unseres starken Engagements und dank viel Knochen und Beziehungsarbeit. Wir dürfen nun mit Rückenwind in die Aufgaben des neuen Jahres starten: Die beiden Volksabstimmungen zur Kostenbremse und zur einheitlichen Finanzierung haben gezeigt, dass die Bevölkerung nicht nur die medizinische Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte würdigt, sondern auch unser System wissen und unsere Mitgestaltungskraft. Unsere öffentlichen Kampagnen haben auch das standespolitische Bewusstsein der Ärzteschaft gestärkt. Vielen Ärzten und Ärztinnen ist bewusst geworden, dass es in der Standespolitik nicht um private politische Werthaltungen geht, sondern um Entwicklungen, die den ärztlichen Beruf im Kern betreffen – und damit auch die Patientenversorgung. Es gilt nun, an diese öffentliche Wahrnehmung und das gestärkte standespolitische Bewusstsein anzuknüpfen. Als Ärztinnen und Ärzte müssen wir auch weiterhin komplexe standespolitische Sachverhalte und ihre Bedeutung für die Bevölkerung verständlich machen – ohne unzulässig zu vereinfachen oder zu polarisieren. Wenn es uns gelingt, unser Wissen um die Komplexität einzubringen und die Brücke zu Politik und Bevölkerung zu schlagen, werden wir nach der erfolgreichen Hafeneinfahrt auch das vor uns liegende Land erfolgreich mitgestalten können.

 

 

Literatur

  1.  Tyson Yunkaporta, Sand Talk, HarperOne 2020, URL: https://www.swr.de/swrkultur/literatur/tyson-yunkaporta-sand-talk-das-wissen-der-aborigines-und-die-kri sen-der-modernen-welt-100.html
  2.  Sabina Heuss, Werfen wir die Flinte ins Korn, URL: https://www.medinside.ch/werfen-wir-die-flinte-ins-korn-20230615

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