Jeanne Berg
M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin Strahlentherapie und medizinische Diagnostik, Bundesamt für Gesundheit BAG, Bern
Reto Treier
Dr. sc., Co-Sektionsleiter Strahlentherapie und medizinische Diagnostik, Bundesamt für Gesundheit BAG, Bern
Philipp R. Trueb
Dr. phil. nat., Co-Sektionsleiter Strahlentherapie und medizinische Diagnostik, Bundesamt für Gesundheit BAG, Bern
Radiovigilanz bezeichnet die andauernde Aufmerksamkeit für mögliche Fehler bei der Anwendung ionisierender Strahlung am Menschen. Darunter fällt auch der Umgang mit medizinischen Strahlenereignissen – unsachgemässe oder fehlerhafte Anwendungen ionisierender Strahlung an Patientinnen und Patienten – und die Einhaltung der Regelungen aus der Strahlenschutzverordnung. Mit medizinischen Strahlenereignissen ist immer auch die Patientensicherheit adressiert.
Bei der Erfassung und Auswertung medizinischer Strahlenereignisse wird die Schuld nicht bei einzelnen Personen gesucht, sondern auf Strukturen und Prozesse (inklusive Qualitätsmanagement) des medizinischen Betriebes fokussiert. Aus der Analyse der Daten sollen Massnahmen abgeleitet werden, die sichere und korrekte Strahlenanwendungen in der Medizin garantieren. Das Ziel ist, betriebsinterne Prozesse ebenso wie die Kommunikation mit externen Beteiligten (zum Beispiel Zuweisern) kontinuierlich zu verbessern.
Damit kann die Sicherheit von Patientinnen und Patienten gefördert, die Sicherheit des medizinischen Personals (Stichwort: Second Victim) verbessert und eine offene Fehlerkultur gepflegt werden.
Gesetzliche Grundlagen
Medizinische Strahlenereignisse werden in den Artikeln 49 und 50 der Strahlenschutzverordnung (StSV) reguliert. Die Anforderungen gelten für alle medizinischen Anwendungen ionisierender Strahlung und für alle Bewilligungsinhaber [1]. Dazu zählen neben Spitälern und privaten Instituten auch niedergelassene, Beleg- und Konsiliarärztinnen und -ärzte aller Fachrichtungen.
Ursachen für medizinische Strahlenereignisse können technische Fehler, missverständliche Arbeitsanweisungen, unvollständig beschriebene Prozesse – und gegebenenfalls daraus resultierendes menschliches Versagen – sein. Mehr zu Buchführungs-, Meldepflichten und dem Umgang mit medizinischen Strahlenereignissen erfahren Sie in der Wegleitung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) «Medizinische Strahlenereignisse – Definition und Pflichten» [2].
Auswertung der Meldungen
Die gemeldeten medizinischen Strahlenereignisse werden in der Abteilung Strahlenschutz des BAG gesammelt, kategorisiert, nachverfolgt und in jährlichen Statistiken zusammengefasst. Die Einführung einer digitalen Meldeplattform, auf der die meldepflichtigen medizinischen Strahlenereignisse online gemeldet werden, ist in Vorbereitung. Nach der initialen Meldung muss die jeweilige Institution innerhalb von sechs Wochen einen detaillierten Bericht verfassen und dem BAG zustellen.
Alle gemeldeten Ereignisse werden BAG-intern vorgestellt und besprochen. Wenn sich auffällige Häufungen einer Ursache, Hinweise auf eine Fehlfunktion eines bestimmten Gerätetyps oder ähnliches feststellen lassen, werden geeignete Massnahmen zur Information anderer möglicherweise betroffener Institutionen ergriffen, um weitere Ereignisse zu verhindern.
Abbildung 1: Anzahl gemeldeter medizinischer Strahlenereignisse je Kategorie zwischen 2018 und 2022. © Bundesamt für Gesundheit BAG, Abteilung Strahlenschutz
Kategorien der Strahlenereignisse
Seit dem Inkrafttreten der totalrevidierten Verordnungen im Strahlenschutz im Jahr 2018 besteht eine Meldepflicht für bestimmte medizinische Strahlenereignisse.
2018 wurden die gemeldeten medizinischen Strahlenereignisse nur den Kategorien «Patienten- und Organverwechslungen» und «andere» zugeordnet. Durch die zunehmende Zahl an Meldungen und die detaillierteren Berichte zum Ereignishergang konnten die Kategorien verfeinert werden. Nicht nur Patienten- und Organverwechslungen werden nun getrennt erfasst. Verwechslungen von Untersuchungs- beziehungsweise Bestrahlungsprotokollen, zu grosse Untersuchungsbereiche, Anwendung falscher Radiopharmazeutika, ungewollte Wiederholungen von Untersuchungen und Fehlbestrahlungen kamen als neue Kategorien dazu.
Die Jahresstatistik medizinischer Strahlenereignisse wird jeweils im Jahresbericht publiziert. [3] Ereignisse von besonderer Bedeutung werden fortlaufend auf der BAG-Homepage anonymisiert veröffentlicht. [4]
Meldepflichtige medizinische Strahlenereignisse betreffen den Hochdosisbereich. Deshalb kamen die Meldungen vorwiegend aus Spitälern (ambulant und stationär) und Radiologieinstituten. Die Zahl der Meldungen hat von 23 im Jahr 2018 auf 103 im Jahr 2022 zugenommen; der Zuwachs verteilt sich über alle Kategorien. Gründe hierfür sind die Aufklärung über die geltende Meldepflicht und die zunehmende Meldedisziplin. Trotzdem muss – wie in anderen Bereichen der Medizin – von einer hohen Dunkelziffer (mindestens Faktor 20) ausgegangen werden. Bis zum Erhalt einer repräsentativen Anzahl Meldungen, die echte Rückschlüsse auf die Situation in der Schweiz zulässt, wird noch einige Zeit vergehen.
Es wäre interessant, die Anzahl Meldungen mit absoluten Untersuchungszahlen zu korrelieren. Aus dem Monitoring der medizinischen Strahlenexpositionen [5] gibt es folgende Erkenntnisse: Nicht alle Anwendungen ionisierender Strahlung werden statistisch erfasst und abgerechnet. Die Häufigkeit von Untersuchungen wird «pro 1000 OKP-Versicherte» und nicht in absoluten Zahlen angegeben. Für die Radiotherapie gibt es nur Daten zur Anzahl abgerechneten Therapieplanungen, aber nicht über die Anzahl durchgeführter Bestrahlungsfraktionen.
Solange sich die Zahl der Ereignismeldungen im Bereich des «Underreporting» bewegt und repräsentative Rückschlüsse nicht möglich sind, ist eine Korrelation mit absoluten Untersuchungszahlen – selbst wenn sie vorlägen – nicht sinnvoll, da nicht aussagekräftig.
Verwechslungen
Seit 2020 sind konstant rund 50 % der jährlich gemeldeten Ereignisse Verwechslungen – von Patienten, Organen, Untersuchungs- und Behandlungsprotokollen. Patientenverwechslungen haben eine Sonderstellung. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Untersuchungen beziehungsweise Strahlenexpositionen a priori weder indiziert noch gerechtfertigt sind. Daraus ergeben sich zusätzlich ethische Probleme.
Lag die Zahl der gemeldeten Patientenverwechslungen 2018 noch bei 20 Fällen, waren es 2022 bereits 34. Ihre Zahl steigt weiter an und liegt stets bei mindestens 30 % aller gemeldeten Fälle.
Aus den Berichten zeigt sich, dass Patientenverwechslungen in zwei unterschiedlichen Prozessschritten auftreten können: Bei der Zuweisung oder bei der Durchführung der Untersuchung beziehungsweise Therapie. Mittlerweile wird dies auch in unserer Erfassung unterschieden. Für die Grafik in diesem Artikel wurden die Statistiken früherer Jahre gemäss den heute verwendeten Kategorien noch einmal neu bewertet, um einen Vergleich zu ermöglichen.
Fast alle Patientenverwechslungen bei der Zuweisung stehen mit der Anwendung des Krankeninformationssystems (KIS) im Zusammenhang. Dort können die Datensätze mehrerer Patienten gleichzeitig für den Zugriff geöffnet werden. Oft müssen mehrere Personen am gleichen PC arbeiten. Aus praktischen Gründen verwendet nicht jede Person ein eigenes Login, sondern lässt die Benutzeroberfläche für den nächsten Nutzer offen. Auch telefonische und andere Nachfragen können es nötig machen, Daten anderer Patienten aufzurufen, um adäquate Auskünfte und Anweisungen zu geben. So können Wechsel in den aktuell angezeigten Patientendaten unbemerkt bleiben. Befindet man sich im falschen Patientendossier und meldet eine radiologische Untersuchung an, ist eine Patientenverwechslung rasch geschehen. Wo physische Anmeldeformulare verwendet werden, kamen Patientenverwechslungen bei der Zuweisung durch das Aufkleben falscher Patientenetiketten zustande.
Ursache für praktisch alle Patientenverwechslungen bei der Strahlenanwendung war die unzureichende Patientenidentifikation. Patientinnen und Patienten hatten ähnliche Namen oder haben bei einem namentlichen Aufruf reagiert und wurden ohne weitere Überprüfung untersucht beziehungsweise behandelt. In anderen Situationen haben sprachliche oder medizinische Probleme die Kommunikation erschwert. Der Standard, die Patientenidentität anhand zweier verschiedener Quellen (zum Beispiel Patientenarmband und Patientenauskunft, Patientenarmband und Ausweis, Patientenarmband und Angaben der Pflegefachperson, etc.) zu prüfen, wurde in diesen Fällen regelmässig nicht angewendet. Einfache Abhilfe wäre, die Patientenidentifikation mit der Prüfung des Geburtsdatums einzuleiten und aktiv nach dem Namen zu fragen.
Radiovigilanz und Strategien
Die zunehmende Meldedisziplin, die sich in einer steigenden Zahl gemeldeter Ereignisse äussert, ist sehr erfreulich. Die eingereichten Berichte zeigen, dass die Zahl der Meldungen nicht nur auf die Erfüllung gesetzlicher Pflichten zurückzuführen ist, sondern auch auf eine fortschrittliche Sicherheitskultur im Unternehmen selbst. Diese Sicherheitskultur ist von Vertrauen zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten sowie einem offenen Umgang mit Risiken (zum Beispiel Speak-up) geprägt. Die Erkennung von Risikopotenzialen führt zunächst zu einem Anstieg der Zahl gemeldeter Ereignisse. Die Identifikation von Fehlerquellen, Ableitung von Verbesserungsmassnahmen und sinnvolle Anpassungen interner Prozesse lassen diese Zahl wieder sinken.
Die Meldungen medizinischer Strahlenereignisse dienen der Patientensicherheit. Diese Bemühungen sind im Kontext verschiedener nationaler und internationaler Gesundheitsstrategien zu sehen: Gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates Gesundheit 2030 (Ziel 5: Qualität der medizinischen Versorgung erhöhen) [6], Global Patient Safety Action Plan 2021-2030 der WHO (Ziel 6.1: Patientensicherheit – Berichts- und Lernsysteme) [7], Strategie zur Qualitätsentwicklung in der Krankenversicherung (Ziel K1: «Die Errichtung einer Just Culture …», Ziel PZ1: «Die Stellung der Patientinnen, der Patienten […] wird gestärkt.», Ziel PS1: «Die Leistungserbringer haben für ihren Bereich ein System zum Management von klinischen Risiken umgesetzt.» [8]).
Die systemische Fehleranalyse auf Basis des Londonprotokolls ist bereits als Qualitätsverbesserungsmassnahme im Sinne der Qualitätsstrategie KVG anerkannt [9]. Für eine flächendeckende nationale Implementierung einer Just Culture sind noch grosse Anstrengungen zu leisten. Nicht zuletzt müssen die Bevölkerung, Patientinnen und Patienten für Risiken sensibilisiert werden, um ihren eigenen Beitrag zur Patientensicherheit leisten zu können. Das BAG hat daher auf seiner offiziellen Website einen Beitrag zur Patienteninformation im Strahlenschutz veröffentlicht.
Literatur und weiterführende Informationen
Im Beitrag von Jeanne Berg et al. werden Zahlen zur Radiovigilanz dargestellt. Die Meldepflicht beschränkt sich auf den Hochdosisbereich. Grob wird zwischen technischen Fehlern und Kommunikationsfehlern unterschieden, seien es mangelhafte Anweisungen oder aus dem Prozess heraus erfolgende Verwechslungen von Patienten oder der zu untersuchenden Körperregion. Die Statistik ist aufschlussreich, lässt aber noch nicht viele Schlussfolgerungen zu. Wie bei jedem neu eingeführten Screening steigt die Inzidenz zu Beginn an. Es kann daraus nicht auf eine Verschlechterung der Versorgung geschlossen werden. Zuerst muss eine Plateauphase erreicht werden. Auch bestehen Probleme mit dem Nenner. Vielleicht ändern sich Meldungen in Zahl und Inhalt nochmals, wenn die Meldungen zukünftig digitalisiert erfolgen. Schon jetzt scheint es aber klar zu sein, dass Klinikinformationssysteme einen relevanten Faktor darstellen. Von zentraler Bedeutung sind Melderegeln und ein garantiertes Vertrauensverhältnis mit einer guten Fehlerkultur. Jegliche mediale Polemisierung wäre dem Ziel der Radiovigilanz abträglich.
Verwechslungen sind an sich nicht ein Strahlen-spezifisches Problem. Sie dürften massgeblich auch beeinflusst sein von Strukturen und Prozessen in den jeweiligen Betrieben und stark davon abhängen, wie die Personalsituation in den betreffenden Betrieben aussieht. Die direkte Kommunikation mit dem Patienten ist essentiell. Damit sie in einer gewissen Qualität erfolgen kann, benötigt sie Zeit. Und gerade diese Zeit wird bereits heute durch bürokratische Prozesse stark eingeschränkt. Wäre deshalb weniger manchmal mehr? Ist das Wesentliche im Fokus? Die Radiovigilanz im Hochdosisbereich gehört sicher zum Wesentlichen. Damit sich aber trotz Fachkräftemangel und klammen Finanzen in den Spitälern etwas verbessern kann, gehören andere administrative Arbeiten reduziert oder abgeschafft. Von ärztlicher Seite wurden in einer Umfrage des VSAO nur 27 % aller Anfragen von Krankenversicherer- und Behördenseite als medizinisch sinnvoll eingestuft. Hier kann und muss reduziert werden, zu Gunsten der Patienten und der Radiovigilanz.